Hering und die ordentliche Arbeit

»Ich zwinge nichts. Ich versuche nicht, mit Gewalt eine Lösung zu finden. Es gibt lange Perioden, wo ich auf der Stelle trete. Das ist vordringlich ein geistiges Problem. Manchmal habe ich auch technische Probleme. Aber technische Probleme lassen sich lösen.«

Auf Bernd Herings Wohnzimmerschrank steht ein bunt bemaltes Holzpferdchen: die Replik einer schwedischen Bauernschnitzerei aus dem 18.Jahrhundert. Hering hatte das Original unter musealem Glas gesehen und – da es nicht verkäuflich war – für seine Tochter nachgearbeitet. Daß er nicht das Original besitzt, ist ihm – glaubhaft – gleichgültig: Die Form stimmt, die Farben stimmen: Célà suffit; das genügt ihm.

Die relativierende Haltung gegenüber dem Original – allein die Authentizität eines Werkes macht es landläufig zum hoch gehandelten Börsenobjekt – spiegelt Herings Verachtung des hypertrophen Kunstmarktes. Doch dies nur sekundär. Vor allem gilt sein Respekt der Form und der geformten Farbe an sich; nicht der Maler adelt das Werk, sondern das Werk adelt sich selbst. Dann, wenn es gut gemacht ist. Vor einem handwerklich versierten Kopisten zieht Hering durchaus den Hut.

Hering hat gut reden. Mit gängigen Reproduktionstechniken ist seinen Bildern kaum beizukommen. Sie sind so plastisch, haben solche Tiefe und derart durchstrukturierte Oberflächen, daß sie einen Kopisten zur Verzweiflung treiben könnten. Auch die fototechnische Abbildung wird der Bildwirkung höchst unzureichend gerecht; man kennt das Sujet und ahnt, was Hering daraus gemacht hat. Das Original kann sie nicht einmal ansatzweise ersetzen.

All dies hat mit der Vorgehensweise Bernd Herings zu tun, mit der Aneignung des Objekts, mit der handwerklichen und künstlerischen Fertigkeit: Am Anfang steht der Eindruck, den er in einer Skizze festhält. Es folgen Aquarelle, die die Variationen der Landschaft – Strukturen, Perspektiven, Stimmungen, Lichtverhältnisse – ausloten und – für sich – schon fertige Bilder sind, voller Leichtigkeit, Lichterfülle und Transparenz. Durch seine Aquarellstudien lernt Hering die Landschaft auswendig, in allen ihren Möglichkeiten; dann braucht er sie nicht mehr. Das große Acrylbild, Abschluß der Sujetaneignung, findet im Saale statt. Sprich: im Atelier.

Aus dem Naturerlebnis wird hier das Kunstprodukt, das Artefakt. Hering verlässt die Stimmungen der Aquarellstudien, entleert die Landschaft ihrer Zeit, versucht den Archetypus der Landschaft herauszuarbeiten. Und diesen baut er auf, altmeisterlich, Schicht für Schicht, Teil für Teil. Das Darunter erst macht das Darüber möglich: Als Malgrund dient Hering eine Holz- oder Hartfaserplatte, sauber angeschliffen, viermal grundiert. Leinwände vibrieren ihm zu sehr. Seine Zeichnung legt er dunkelbraun oder schwarz auf weißem Grund, bedeckt sie dann mit plastischem Acrylgrund. Die zugrundeliegenden Strukturen spachtelt er auf oder ritzt sie ein. Darüber zieht er Farblasuren, erst grob, mit breitem Pinsel, dann feiner, immer feiner. Um das Bild in Bewegung zu bringen, legt er antithetisch ein Punktsystem darüber; die akribisch gesetzten Punkte addieren sich aus einigem Blickabstand zu sanften, samtenen Böden oder transparentem diffundierendem Licht.

In der Endfertigung des »großen« Bildes wird Hering zunehmend zum Mediator, zum malerischen Vermittler zwischen Landschaft und Bild. Er bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat zwischen Konkretion und Abstraktion, »immer in der Gefahr, nach der einen oder anderen Seite hin abzustürzen«. Wie gegenständlich oder abstrakt das Bild letzlich wird, entscheidet das Objekt: Eine weit geschwungene, weibliche Landschaft entzieht sich leichter der Abstraktion als eine schroffe, von Natur aus kubisch strukturierte Felswand es kann. Ob Hering die Gratwanderung jeweils gelungen ist, dies zu entscheiden überlässt er großmütig – oder erleichtert (?) – dem Betrachter. Denn mit dem letzten Pinselstrich oder Pinseltupfer hat er sich vom Bild gelöst – oder: das Bild von ihm.

Dass sich der schöpferische Prozess von Bernd Hering so logisch und systematisch darstellen lässt, liegt an seiner absoluten Professionalität. Anders gesagt: Bernd Hering hat jede malerische Erkenntnis, jede technische Erfahrung, jede subjektive Regung bewusst aufgenommen und in zusätzliche Kompetenz umgemünzt. Er ist ein strenger Empiriker in eigener Sache, und dazu zählt auch seine eigene psychosomatische Disposition. Zwanghaft in den kleinen Dingen des Alltags, hat er seinen Tag so systematisiert, dass ihm der größtmögliche schöpferische Ertrag gelingt: Vom ersten Tageslicht an malt er in Acryl, in einer geordneten Umgebung, die ihm den blinden Zugriff auf seine Malutensilien gestattet; exakt zur Mittagszeit legt er den Pinsel beiseite. Nachmittags wendet er sich der Zeichnung zu oder dem Aquarell. Oder er greift zum Bildhauerwerkzeug.

Die Lichtverhältnisse und sein Biorhythmus haben diese Ordnung bedingt: Er legt sich diese Ordnung auf oder besser: unter, empfindet dies als »wohltuend und nützlich«. Sein Malprozeß braucht, das weiß er längst, keine genialischen Eruptionen, sondern Konstanz und Kontinuität. Dafür hat er, der Genussraucher, sogar seine Pfeifen aus dem Atelier verbannt; das Ritual des Stopfens, Entzündens und Rauchens stört seine Konzentration. Und dafür läuft im Hintergrund oft klassische Musik der harmonischen, geordneten Art. Bach und Vivaldi eignen sich besonders gut: Sie bilden keine Geräuschkulisse, sondern sind »kongeniale Begleitung« seines Gefühls.

Man spricht heute von der »Entdeckung der Langsamkeit«. Hering braucht sie nicht zu entdecken, seine Arbeiten verkörpern sie. Und auch die scheinbar monotone Reihung von Hunderten von Punkten zum Punktsystem empfindet Hering nicht als mechanisch, sondern als befriedigenden Prozess: Die Punkte formen sich zusehends zu einer Haut, zu einer Oberfläche, und Hering tupft sie so geruhsam, wie man früher die Kupferstiche gestichelt haben mag. Selbst abends, wenn er mit seiner Frau das Gemüse putzt, bleibt er seiner freudigen Kleinlichkeit – im guten Sinne – treu: Seine Wirsingrhomben sind so exakt, seine Gemüsearrangements so perfekt, daß sie auch den strengsten formalen Anforderungen genügen.

Als Bernd Hering in den achtziger Jahren von Hamburg ins nordhessische Felsberg zog, verbrannte er eine gute Hälfte seiner Bilder. Er hatte sie überwunden und wollte sie nicht länger als unnötigen Ballast mit sich schleppen. Dies kann ihm heute nicht mehr zustoßen: Seine Bilder sind zu präzise vorgeplant. Hering kennt sich als Maler – und als Person, die malt – inzwischen einfach zu gut. Nur seine Bilder kennt er manchmal kaum noch wieder; dann steht er davor »wie ein Fremder« und fragt sich, wie er »das zustande gebracht« hat. Die Schöpfung hat sich von ihrem Schöpfer gelöst.

-be-

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