Hering und die Landschaft an sich

Die Landschaft ist das Sujet des Malers Bernd Hering. Er sucht sie nicht, sucht sie allenfalls auf. Oder sie stößt ihm einfach zu: eine Felswand mit kubisch-prägnanten Strukturen, ein verstepptes Hügelland mit weichen, weiblichen Formen, eine Ackerfläche mit zum Horizont strebenden Schollenbrüchen, eine gekräuselte Wasseroberfläche, in der sich das abendliche Sonnenlicht spiegelt.

Hering malt so exakt, so plastisch, daß seine Landschaften sinnliche Objekte auch jenseits der optischen Wahrnehmung werden. Unter den Fingerspitzen lassen sich scharfe Felskanten nachziehen wie Schnittkanten. Sanft geschwungene, grünbewachsene Hügel lassen die Fingernerven vibrieren wie Moospolster oder ein weibliches Vlies. Es ist dies nicht die Technik allein, sondern auch der Anreiz zur Imagination: Was die Nervenenden auf der Acryloberfläche eigentlich gar nicht mehr fühlen können, steuert die durch den Augenschein gespeiste Phantasie bei.

Auf zweidimensionaler Fläche die dritte Dimension, das Volumen oder die Tiefe zu schaffen, hält Hering für das eigentliche Problem seiner Malerei. Das gelingt ihm so glänzend, daß ein Zufallsbetrachter angesichts einer Felswand im Seitenlicht in den begeisterten, von keiner Kunsttheorie getrübten Satz ausbrach: »Das ist ja ein 3-D-Bild!« Dennoch verstünde man Hering gründlich miss, würde man ihn – und dies stößt ihm nicht selten zu – in die Nachfolge der Naturalisten oder gar der Fotorealisten rücken. Dabei ist es verblüffend, wie viele Menschen die Fotos seiner Landschaften für Landschaftsfotos halten.

Hering malt das, was durch den Prozess der wahrnehmenden Betrachtung entsteht. Nimmt sich selbstbewusst das Recht, Naturstrukturen herauszuarbeiten, nachzuarbeiten und zu überarbeiten, wie es ihm ästhetisch zwingend erscheint. Zudem entfernt er konsequent alle landschaftsfremden Elemente – Gebäude und Strommasten, Menschen und Tiere – aus seinen Bildern; allein einer stark stilisierten Vegetation ist es gelegentlich erlaubt, die rein anorganischen Welten mit einem Hauch von Grün zu überziehen oder kontrapunktisch abzugrenzen.

Was unter Herings Pinsel entsteht, sind Metastrukturen, die keinen metrischen Maßstab mehr brauchen. So fand Hering in einer Kiesgrube auf Sylt die gleichen Strukturen vor, wie er sie – ungleich größer – auf Dias aus den archaischen Bergregionen Kurdistans wiederentdeckte. Auch deshalb sind Strommast und Mensch, Haus, Hof und Tier in seinen Landschaften fehl am Platze: Schaffen sie doch Maßstäbe, die den Maler einengen und in seiner Aussage relativieren.

Dennoch bleibt Hering einem menschlichen Maßstab fest verhaftet: der menschlichen Sehgewohnheit. Eine Alpentotale würde er ebenso wenig abbilden wie die kristalline Struktur eines Minerals. Er meidet den Makro- wie den Mikrobereich deshalb, weil das Auge des Betrachters weder als Weitwinkelobjektiv noch als Mikroskoplinse taugt. Hering sieht, entdeckt und malt immer aus der »mittleren Sicht«, aus dem »unmittelbaren Erleben«. Er malt nach dem Augenschein, mit geradem Blick.

Die Meta-Physis der Landschaft genügt ihm dabei. Jedem Versuch, die Natur zu funktionalisieren, erteilt er eine energische Absage. Die Landschaft dient nicht als Kulisse für Anderes, Bewegtes oder Bewegendes. Romantisierung wie die eines William Turner geht ihm gleichfalls gegen den nüchternen Strich: Er sucht nach eigenem Bekunden nicht die Idylle in der Natur, sondern die Natur selbst. Die religiöse Überhöhung eines Caspar David Friedrich (»Man sieht das Kreuz auf dem Berg sogar dann, wenn es da gar nicht steht!«) ist ihm wesensfremd. Er will die Landschaft entideologisieren und auf sich selbst reduzieren; selbst die impressionistische Lichtfülle widerstrebt ihm dann, wenn sie die Landschaft nur als Trägersubstanz dieses Lichtes behandelt.

Was Hering anstrebt, ist ein Archetypus von Landschaft, Natur »in ihrer allgemeinsten Form«. Er hat als Landschaftsmaler ästhetisch und intentional abgespeckt; die Konstruktion des Bildes und die Wiedergabe der Oberflächenstruktur genügen ihm: solide, konzentrisch, ausgewogen, meist horizontal gelagert, mit der leichten Abweichung vom geometrischen Mittel, die die eigentliche Symmetrie ausmacht. Doch gerade die strenge Formalisierung seiner Landschaften gibt dem Betrachter den Blick frei, um über sie zu assoziieren: Eine solitäre Felswand, schroff und scharfkantig, ragt aus dem sie umgebenden Geröll heraus wie ein steinzeitlicher Faustkeil aus seinen Fertigungs-splittern. Die Steine, die flach aus einer rötlichen Landschaft der Provence ragen, könnte man auch als Erhebungen im Magmafeld eines Hitzeplaneten sehen. Und die schon körperhaft dichten Wolken, die schwer auf einer verödeten Landschaft lasten, rufen halbvergessene Kindheitsvisionen von Überwesen hervor, deren Züge sich rhythmisch zu immer neuen Gesichtern ballen.

Die scheinbare Statik der Bilder entpuppt sich als Momentaufnahme der Zeit. Bewegungsspuren überziehen die Landschaften, finden sich im Stakkatorhythmus einst erodierter Felsformationen, in den mäandernden Schwingungen tief eingeschnittener Bachläufe, in den sanften Wellen einer Hügellandschaft, in den Kräuselungen einer Wasseroberfläche: Bewegungsspuren als Kontinuum, der Natur immanent Das »wie« des Naturwissenschaftlers interessiert Hering dabei nicht. Weder ist er Geologe, der die Schichten eines Steinbruches nach Erdaltern klassifizieren will, noch ist er Historiker, der dem Bombenangriff nachspürt, der einen Trichter in die Landschaft riß. Er steht ergriffen im Sinne des Wortes vor einem Phänomen und versucht, das »was« mit malerischen Mitteln zu fassen. Sieht sein Bild als »Realisation eines Phänomens«. Entdeckt Zeichen in der Landschaft, Chiffren, Formen, Gegenformen. Versucht, diese Entdeckungen ins Bild zu rücken, staunend und nüchtern zugleich.

Darüber hinaus entdeckt man in seinen Bildern Schöpfungsmythen: Dem heiligen Berg entspricht der Archetypus der Felswand, dem Wassermythos die Chiffre eines Tümpels in dänischer Landschaft, der Urschlange das gewundene Tal. Herings Sujets sind immer elementar: Erde, Stein, Wasser, Licht, Luft und – als organisches Zugeständnis – die Vegetation: »Urpflanzen« fast im Goetheschen Sinne. Elementar: das heißt eben auch ursprünglich. Und Hering räumt ein, »die Dinge so zu malen, als wären sie gerade erst geschaffen«. Gibt »Welterlebnisse« wieder, Erlebnisse einer Welt, die außerhalb menschlichen Einflusses existiert. Oder die – wie sein Acker etwa – menschliche Eingriffe abschüttelt, sich renaturiert. Die Landschaft ist für ihn das »Gesicht der Natur«.

Es ist nicht nötig, in Herings Bildern Schöpfungsmythen nachzuspüren; es ist nicht zwingend, Sakrales darin zu entdecken. Sie bestechen auch ohne Transzendenz, allein durch ihre Farb- und Formgestaltung. Dennoch überlagern sich Form und sakraler Charakter: Hering selbst nennt seine Wiederholungen von Kleinformen in einer Großform mit ihren Variationen eine »Gebetsmühle« oder einen »Rosenkranz«. Gibt zu, man könne dies »auf rein materielle Dinge bezogen Beschwörung nennen«. Und er stellt sich selbst in die Reihe der »Religionsdiener«, wie Philosophen, Musiker oder Schamanen auch. Doch ist dies die Transzendenz der Materie, der er nichts Hohes oder Hehres hinzufügen will. Er sucht – und realisiert – das Meditationsbild.

Es ist die Sachlichkeit der Dinge, mit der Hering sich malend und endlos befaßt. Seine Bilder sind nicht hermetisch, sondern eröffnen eine Welt der Gewesenheiten und der Sachverhalte, im Wittgensteinschen Sinne: »Die Gegenstände (Sachen, Dinge) enthalten die Möglichkeiten aller Sachlagen«.

Zu diesen Möglichkeiten zählt auch der Mensch. Gerade seine Abwesenheit in Herings Landschaften zwingt den Betrachter immer wieder, ihn zu denken, zu imaginieren: Er kann sich ein Bild vom Menschen machen, ohne ihn malerisch zu konkretisieren. Gerade dieses Vorenthalten eines Menschenbildes macht Herings Landschaften zutiefst humanistisch.

-be-

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