Metaphysik der Oberfläche

von Werner Lehmann

„Prinzip der Kunst: mehr wieder finden als verloren gegangen ist.“ (Elias Canetti)

Im Umgang mit den Arbeiten von Bernd Hering muss man sich Zeit lassen. Sie werben nicht. Sie widersetzen sich modischen Geschmackserwartungen. Es gibt kaum ein Werk von ihm, das nicht unmittelbar mit der Natur zusammenhängt, von Landschaften, Figuren, Dingen (Steinen, Felsformationen) hervorgerufen und in Gang gebracht worden ist. Hätte das Wort »Realismus« noch einen Sinn, Hering wäre als Realist zu bezeichnen.

Aber »Realismus« ist ein wenig hilfreicher Begriff geworden: „absurd“ (Camus) und überdies ideologisch ramponiert. Was Hering methodisch zu erreichen sucht, ist eine Metaphysik der Oberfläche und der Gleichgültigkeit im Sinne von Egalität. Dahinter steht der Glaube, dass Wahrheit in der Natur mit den Mitteln der Kunst sich ausdrücken und zur Anschauung bringen lässt. Alles, was ist, ist Oberfläche. An ihr lässt sich sichtbar machen: „Tiefe“ (Cézanne), Bild, Sinn, Raum, Zeit, Erscheinung, Bedeutung und »Begriff« (Goethe).

Dem Begriff des anschauenden Denkens und der denkenden Anschauung ist in seinem Wesensanspruch alles gleichgültig: der Mensch, die Natur und die Dinge. Kein Desinteresse ist gemeint, sondern ein Bezug, der auf viele Namen hört: Freundlichkeit, Liebe, Erkenntnis. Die Natur wäre dazu ‚imstande, den Menschen natürlich zu machen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, die Natur, der er entstammt, an der er teilhat, zu humanisieren. Der Künstler vermag die Landschaft zu denken, „den Pflanzen Vernunft zu verleihen und dem Himmel Trauer.“ (Cézanne)

Die variationsreich gearbeiteten Dünen-Zyklen von Bernd Hering bringen das Thema prägnant und, wie ein Vergleich mit Courbet und Otto Müller deutlich machen würde, originell zum Ausdruck. Sie eignen sich überdies besonders gut als Zugang zu seinem Werk. Stilindiz dieser Arbeiten ist die absolute Identität von Figur und Landschaft. In den graphischen Studien der frühen 60er Jahre werden die weiblichen Akte noch als „nature morte“, als flächige Evokation behandelt, als ob der Wind sie in bizarren Formen freigeweht hätte. Im Laufe der Zeit werden sie zunehmend plastischer, verharren jedoch in ihrer Identität mit der Landschaft als vegetative Momente und Bestandteile. Es gibt eine in ihrem Farbauftrag furios gearbeitete Acryltafel aus dem Jahre 1967 mit der lapidaren Bezeichnung „Landschaft“: Man kann sie unterschiedlich, aber jeweils »wörtlich« lesen als rhythmisch außerordentlich stark modulierter Hügellandschaft oder als auch im Format monumentalen Halbakt, dessen Licht- und Schattenspiele Brüste, Rippenbögen, Nabel und Wölbung der Bauchdecke sichtbar macht.

In den Radierungen kommt es zu einer gestisch raffinierten, das Erotische betonenden Körperinszenierung des weiblichen Akts in der Landschaft. Es ist keine Frage, dass hier an einem anspruchsvollen Weiblichkeitsmythos gearbeitet wird, an einer Metaphysik der Oberfläche, in der der Bildraum zu einer Dimension der Zeit wird, die erinnert an die Anfänge der Schöpfungsmythen, an Gaia, Demeter an Hetärisches und umfassend Mütterliches, wobei Vergangenheit restlos Gegenwart wird und in die Zukunft greift. Ein Schönheitsbegriff macht sich dabei geltend, der alle Formen des Entstehens und Vergehens enthält, der auch, wie sich den Plastiken entnehmen läßt, auf der Schönheit des herkömmlich Unschönen und körperlich Verwitternden besteht. Weiblichkeitsmythos: Die Plastiken, die Graphiken und Bleistiftzeichnungen wollen keine Bildlektion erteilen; sie hängen nicht allegorisch durch, wie viele Werke Courbets; sie sind vor der Wirklichkeit entstanden, mit den künstlerischen Mitteln strengster Formbeherrschung ausgeführt; sie lassen zahllose Deutungen zu und widersprechen keiner, solange die Deutungen mit sich und dem Gegenstand in Übereinstimmung bleiben.

Hering ist Hamburger, humanistisch geschult, Sohn eines Kapitäns und einer passioniert mit Literatur umgehenden Mutter. Alle, die sich bisher über ihn geäußert haben, haben aus der hanseatischen Konstellation seiner Herkunft für das Werk Herbheit und Sprödigkeit abzuleiten versucht. Weil es ihm zusagt, hat er dem nicht widersprochen. Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Hering ist nicht nur „artisan“, d. h. Handwerker und bedächtiger Arbeiter mit der Lust an spröden Motiven und Formen; er ist auch Artist, der den Reiz des Raffinements kennt, der virtuos die urbanen, verfeinerten Stilmittel des europäischen Manierismus beherrscht und anwendet.

Seine Motive entnimmt Bernd Hering einer Wirklichkeit, die nach herkömmlicher Einschätzung »bildunwürdig« geworden ist. Für die unentwegte Heimatkunst ist sie es, weil sie zu abstrakt und zu wenig gemütvoll ist; für den neuen Realismus, weil sie zu intakt, für die Abstrakten, weil sie zu gegenständlich ist. Es ist eine Welt äußerster Kargheit, Dürftigkeit, unwegsamer und oft exzessiver Einförmigkeit, eine anachoretische Welt, der Hering sich zuwendet, deren physische Nähe er sucht, an die er so nahe herantritt, dass sie in der Darstellung unvertraut wohnt, fremd wird und illusionistische Vereinnahmung unmöglich macht, was nicht ausschließt, dass man sie in Liebe erkennen kann.

Eine weitere Arbeit, eine Acryltafel, hat dänisches Vorland zum Gegenstand, in dem Vieh Trittsiegel hinterlassen hat, über allem ein Glissando aus abendlichem Licht. Es ist eine ins Riesige erweiterte Idylle von unheimlicher, fast endloser Weite, die jedoch durch horizontale Akzentuierungen im Endlichen verharren muss. Diesem Motiv, das junges, Neues, Thaletisches repräsentiert, steht auf einer ebenfalls großformatigen Tafel ein anderes gegenüber: Eine Felswand, spröde, hart, erdgeschichtlich alt, in die Tiefen reichend und eine dünne Schicht undefinierbarer Vegetation tragend, über der ebenso schmal gedämpftes Blau des Horizonts liegt. Die Linien der einzelnen Formationen müssten sich schneiden, zöge man sie weiter. Der Fels, ein geologischer Christophorus, der Erde, Vegetation und Himmel trägt, ein Herakles, ein Atlas: plastische Rhythmen, geometrische Muster, Farbreflexe, überall Korrespondenzen, die nichts allein und isoliert lassen – Alles weist über sich hinaus und organisiert das Anorganische. Goethe hatte einen Roman über das Weltall geplant, geblieben davon ist seine Schrift über den Granit- »Ich fühle die ersten Anfänge unseres Daseins; ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Thäler.« In ebendiesem Sinne ist die Acryltafel ein Meisterwerk von hintergründiger wie vordergründiger Schönheit.

Bernd Hering arbeitet im Norden, vorzugsweise in Dänemark, und im Süden, in Frankreich, wo er Fuß gefaßt hat, einen Blick weit entfernt vom Mont Ventoux, den im 14.Jahrhundert Petrarca gesehen, bestiegen und als Natur dem Mittelalter gegenüber entsündigt hat; es ist ein Ausgangspunkt für die Entwicklung des Landschaftgefühls und -bewusstseins der Neuzeit, die sich im 20.Jahrhundert daranmacht, nicht nur Gefühl und Bewusstsein, sondern auch die Landschaft selbst zu kassieren.

Der Aufenthalt im mediterranen Gebiet, wo „Helligkeit sich vergeistigt“ (Cézanne) hat die Motive und die Stilmittel Bernd Herings erweitert und konsolidiert. Seine Arbeiten stießen auf Verständnis und Zustimmung des französischen Publikums, als er ihm die „garrigues“ zeigte, die kärglich bewachsenen von starken Gewürzen imprägnierten Hügelformationen westlich der Rhone. Nicht die Zustimmung allein, die Begründung ist von Bedeutung: „Bernd Hering nous apprend à aimer nos garrigues!“. Lieben lehren, sehend wahrnehmen, den Reichtum der Einfachheit zeigen, an die Schönheit des Unscheinbaren erinnern – das sind einige Zielsetzungen seiner beharrlich entwickelten Kunst, deren sinnlicher Zauber sich bei der Betrachtung erschließt: Er hält der deformierten Wirklichkeit ihren eigenen Traum vor Augen, einen Traum, der so alt und so gefährdet ist wie die Wirklichkeit selbst. Den intellektuellen und moralischen Herausforderungen der Zeit begegnet er nicht mit Attitüden, sondern mit handwerklichem Ernst, einem äußersten Maß an technischer Sorgfalt und hohen, zermürbend-kritischen Ansprüchen an sich selbst und sein Können.

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